Ich stand an der Landstrasse, die an der kleinen Stadt Mödling vorbei zu der 15 Stadt Wien führte. Es war schon dunkel und kalt um diese Tageszeit im Oktober. Dazu drückte der schwere Rucksack, den ich trug, denn ich war ein ganzes Stück hier herausgelaufen. Im Heim warteten Sie jetzt auf mich. Vielleicht hatten Sie auch schon den Brief gefunden, den ich zurückgelassen hatte. Ich sah plötzlich das traurige Gesicht meiner Schwester vor mir. Aber ich biss die Zähne zusammen. Wenn ich mutig sein wollte, durfte ich mich jetzt durch schlechte Gedanken zurückhalten lassen. In der Ferne tauchten jetzt wieder zwei Scheinwerfer auf. Hoffentlich funktionierte es dieses Mal. Es kamen nicht allzu viele Autos hier vorbei. Neun waren schon an mir vorbeigerauscht. Ich hob die Hand, der Wagen hielt. Ein Mann blickte aus dem Fenster. „Wohin willst Du denn so spät noch““ „Nach Wien!“ „Du hast Glück, ich fahre nach Wien. Steig ein.“ Ich stieg ein. „Bist Du in Wien zu Hause?“ fragte mich der Mann. Ich zögerte einen Moment. „Ja“ sagte ich dann. Froh war ich, dass es dunkel war. Ich spürte die Röte in meinem Gesicht aufsteigen. Ich wäre hier in den Ferien gewesen, sagte ich. „Ach wirklich?“ fragte der Mann mich. „Sind die Schulferien heuer bis Oktober gewesen?“ Nun dachte ich krampfhaft nach. Ich sah mir den Mann an meiner Seite genauer an. Er gefiel mir, sah richtig nett aus. War jung und hatte ein vertrauenserweckendes Gesicht. Sollte ich ihm jetzt alles erzählen? Dachte ich für einen Moment, aber ich schob den Gedanken gleich wieder beiseite. Nein, das wäre zu gefährlich gewesen. Ich schlief ein und erwachte erst, als der Wagen hielt. „Sind wir in Wien?“ fragte ich. Der Mann lachte und sah mich an. „Nein, sind wir nicht.“ Sagte er. „Du wohnst nicht in Wien“, sagte er beiläufig. Ich starrte ihn an und konnte kein Wort erwidern. Erst im Kaffeehaus bei Kakao fand ich meine Sprache wieder. „Wie kommen Sie darauf, ich wäre nicht aus Wien?“ fragte ich vorsichtig. Der Mann sah mich mit seinen braunen, warmen Augen an, und ich senkte meinen Kopf. „Du bist ausgerissen, nicht wahr?“ fragte der Mann mich ruhig. „Wahrscheinlich hast Du alles satt, nicht wahr?“ Ich schwieg eine Weile, biss auf meiner Unterlippe herum. „Ich habe die Schule satt“ stieß ich hervor, und zwar endgültig. Der Mann lächelte und sagte „Darüber kommt man hinweg. Später wirst Du die Schule vermissen. Das kannst Du mir glauben.“ „Ich nicht!“ schrie ich. „Mein Zeugnis wimmelt nur vor Fünfen. Ich mache alles verkehrt und alle denken, ich bin eine Niete.“ Ich hatte alles mit hochrotem Kopf hervorgesprudelt. Der Mann hatte mich nicht ein einziges Mal unterbrochen. „Wer sagt denn, dass du eine Niete bist?“ fragte er, nachdem ich mich beruhigt hatte. „Na, alle! Auch der Lehrer! – 16 Jedenfalls denkt er das von mir! Und der Neue, den wir bekommen sollen – wird es auch denken. Wenn der mein Zeugnis sieht, bin ich für ihn auch gleich erledigt. Ich habe keine Lust mehr. Es hat keinen Zweck, ich bin eine doofe Nuss.“ Der Mann sah mich an und meinte dann: „Nun höre mal gut zu. Ich glaube nicht, dass die anderen Dich für eine Niete halten. Du selbst hälst Dich dafür. Wenn Du mehr Zutrauen zu Dir hättest, dann würdest du nicht weglaufen, sondern dableiben und Dir und den anderen beweisen, was in Dir steckt. Welche Talente in Dir stecken. Ich starrte den Mann mit offenem Mund an. Der Mann nickte. „Es stimmt schon, glaube mir“ sprach er weiter. „Ein großes Mäderl wie du läuft nicht weg, es setzt sich durch.“ Das traf mich tief. Der Fremde stand auf und er sagte zu mir „Hör mal zu. Ich fahre Dich jetzt zurück, wenn du Mut hast und groß genug im Herzen bist, versuchst du es einfach noch einmal.“ Ich sah ihn fassungslos an. Ich dachte, der Mann würde mich zur Wache bringen, und ich hatte mir schon überlegt, wie ich verschwinden könnte. Und jetzt saß ich da und sollte selbst entscheiden, ob ich Mut und Größe besaß oder nicht. Ich konnte wieder weglaufen. Niemand hinderte mich daran. War das aber Mutig? Als der Mann mich eine halbe Stunde später fragte, sah ich ihn lächelnd und verlegen an. „Ich komme mit“ sagte ich leise. „Ich wusste es“ sagte der Mann. „Ich merke es einem Kind an, wieviel in ihm steckt – auch bei dir. „Hatten Sue keine Angst, das ich weglaufe?“ fragte ich verlegen. „Nein. Du wärst nicht weit gekommen. Dafür hätte ich schon gesorgt. Aber Du bist keine Niete.“ Ich lächelte traurig. „Das sagen Sie! Hoffentlich kann ich meinen neuen Lehrer auch davon überzeugen.“ Als ich am nächsten Tag in meine Klasse kam, war Peinlichkeit angesagt. Am liebsten wäre ich wieder verschwunden. Wer betrat als neuer Lehrer die Klasse? Der Fremde von der vergangenen Nacht. Nun war mein Mut wirklich angesagt. Er lächelte mich an und sagte „Ich freue mich, jemanden aus dieser Klasse schon zu kennen. Das war schon alles, was er von der vergangenen Nacht sagte. Fand ich echt super!
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