Es gibt zwei Sorten von schlechten Schülern. Die einen geben sich die größte Mühe und sitzen stundenlang über ihren Schularbeiten. Sie lernen und lernen, aber wenn es dann soweit ist, bekommen sie vor lauter Angst, etwas falsch zu machen, keinen Ton hervor und alle Mühe war umsonst. So eine Schülerin war ich. Die andere Sorte ist aber viel schlimmer: diese Art von Schülern, die es nicht nötig haben, die ihren mangelnden Fleiß durch ihr großes Mundwerk ersetzen und sich mit großen Sprüchen und ihren Fäusten des Respekt verschaffen, den sie sich mit ihrer Leistung doch nie verschaffen können. So eine war meine Schwester Erika. Sie war schon zweimal sitzen geblieben, während ich es gerade noch immer geschafft hatte. Erika machte sich nicht das geringste daraus, das sie sitzengeblieben war. Sie meinte ja auch „gar nicht, schuld daran zu sein. Der Lehrer hat mich aus purer Gemeinheit sitzengelassen!“ behauptete sie kühn. Wir anderen mochten unseren Lehrer irgendwie sehr gerne, überhaupt ich, da er mir, wie er kam, sehr half. Er baute mein Selbstvertrauen auf, und hatte mich auch nicht ausgeliefert, wie ich weggelaufen war. Aber wir wagten uns 23 nicht, der Erika zu widersprechen. Sie vertrug keinen Widerspruch. Sie war – obwohl ich zwei Jahre älter war – um einiges größer und stärker. Den Lehrer hatten wir aber alle in diesem Heim in Mathe und Deutsch. Ich meinte zu Erika, „dass ich es blöd fände, wenn man immer auf andere und schwächere einschlagen würde.“ „Halt doch deine Klappe! Blöd bis Du!“ hatte sie geantwortet, und dann gemeint „Solltest Du noch eine Meldung machen, passiert Moni ein Unglück!“ Da sagte ich „Moni ist doch nicht sitzengeblieben!“ „Halt den Mund! Halt dein Maul!“ schrie sie, „der Lehrer ist schuld! Aber bei dir ist es einwandfrei Dummheit, du machst alles verkehrt herum.“ Ich schwieg betretend. Sie hatte ja recht: wenn man lernt und ist dann doch nicht in der Lage zu antworten, weil die Angst einen die Kehle zuschnürt, musste man Dumm sein. Ich gab mir ja wirklich Mühe, und litt sehr darunter. Ich träumte davon, einmal den Lehrer zu überraschen, dass ich alle Antworten gebe. Gerade in der letzten Woche war ich so fleißig gewesen, aber ich fand einfach nicht den Mut, mich zu melden. Ich saß wieder verzagt und traurig auf meinem Platz, weil ich ja alles wusste, mich aber nicht getraute, etwas zu sagen oder meine Hand zu heben. Der Lehrer sagte „Nun, Kinder, der Schulrat kommt.“ Nun zeigte Erika eine überlegene Miene. „Ihr seid alle blöd“ rief sie in der Pause. „Von euch will der Schulrat nichts. Der kommt wegen der Lehrer! Bei und wegen Herrn Colysch. Der Schulrat ist dazu da, um auf die Lehrer aufzupassen. Ich sagte „rede keinen Quack!“ Da hatte sie mich an den Haaren und schrie „ ich zünde dich irgendwann an.“ Da war wieder meine Angst und Erika lächelte mit ihren, gefährlichen, bösem Blick. „Kinder!“ rief sie im gleichen Moment, „wir wischen den Lehrer eins aus!“ Keiner sollte dem Schulrat zuhören, keine richtige Antwort geben. Dann würde der Schulrat denken, wir hätten einen schlechten Lehrer. „Nein! rief ich , „das machen wir nicht!“ Erika sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „So, Du willst nicht mitmachen?“ während sie ihre Fäuste auf und zumachte. „Na, wir unterhalten uns nach der Schule mal drüber.“ „Ein paar Freunde von mir reden da auch noch mit, aber ausgiebig“ sagte sie gefährlich leise. Ich kannte ihre Freunde. Sie würden mich wieder verprügeln und wie. So kam es, dass der Lehrer, als er am darauffolgenden Tag in der Rechenstunde mit dem Schulrat zusammen die Klasse betrat, blickte er auf lauter gesenkte Köpfe. Der Lehrer dachte zuerst, wir wären befangen! Um es uns leichter zu machen, fing er mit einfachen Fragen an. „Fünf mal fünf ist – nun Hanna?“ fragte er. Hanna stotterte „sechsunddreißig."

Der Lehrer schüttelte seinen Kopf und fragte die nächste Schülerin. „Dreiundzwanzig?“. Soviel der Lehrer auch fragte, er bekam keine richtige Antwort. Alle hatten Angst vor Erika. Der Schulrat sah ärgerlich aus und unser Lehrer traurig. Er hatte längst gemerkt, dass es Absicht war. Als ich an die Reihe kam, lächelte er mir gütig zu. „Nun, Elfriede? Wenn mich die anderen im Stich lassen, wirst Du wohl auch kaum sagen, wieviel sieben mal neun ist?“ Mir wurde ganz heiß vor Aufregung. „Wenn die anderen mich im Stich lassen“, hatte der Lehrer gesagt. Ich hatte auf einmal keine Angst mehr. Ich vergaß ganz, dass ich mich nie getraut hatte, zu antworten. Ich wollte den Lehrer nicht im Stich lassen, nun gerade erst recht nicht. „Dreiundsechzig! stieß ich hervor. Der Schulrat lächelte zum ersten Mal. „Na also, wenigstens eine, die hier etwas weiß, lobte er. Mein Gesicht wurde rot. Und beim Lehrer nächste Frage , schoss meine Hand ganz von allein in die Höhe. Die Einzige von allen. Es war mir selbst fast unheimlich, wie schnell und richtig meine Antworten kamen. „Sehr gut“ sagte der Schulrat, ein kluges Mädchen unter lauter Dummen.

Die Gesichter meiner Klassenkameraden waren sehenswert! Und das wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Bei den nächsten Fragen waren es drei , die sich meldeten, dann fünf und wenig später flogen nur mehr die Hände in die Höhe. Auch meine blieb nicht mehr unten. Ich hatte meine Angst verloren, wieder war es der Lehrer, der mich wieder ein Stückchen nach vorne hob. Ich würde jetzt bestimmt nicht mehr die schlechteste Schülerin bleiben, denn ich wagte es endlich. Meine Hand zu heben und auch zu antworten. Diese Lehrer – ich muss es schreiben – ist der Beste Lehrer weit und breit. Erika aber verschoss wütende und böse Blicke. Das nützte ihr aber Garnichts! Als der Schulrat weg war, fragte der Lehrer, was den los war, dass keiner richtige Antworten gab. Keiner sagte aber was geschehen war. Als der Lehrer mich fragte, erzählte ich ihm, dass alle so tun sollten, als wären sie dumm! Der Lehrer schmunzelte und sah in seine Klasse. Nur Erika übersah er. „So, so“ sagte er dann, nun gut, dass ihr euch doch noch bemüht habt, so klug zu sein wie Elfriede. Da wurde ich Rot und auch ein wenig stolz, dass ich es geschafft hatte.